Dezentrale „Euthanasie“ in Weilmünster

Bereits während der „Aktion T4“ stieg die Zahl der Sterbefälle in der LHA Weilmünster weiter an: Mangelversorgung, schlechte hygienische Verhältnisse und widrige Unterbringung waren die Hauptursachen. Die Anstalt folgte der Logik, möglichst keinen Pfennig mehr für die zur Vernichtung bestimmten Menschen auszugeben. Nach dem Stopp der „Aktion T4“ mussten zahlreiche jener Patient:innen, die nicht mehr nach Hadamar gebracht werden konnten, in Weilmünster sterben.
In Abgrenzung zur zentral von Berlin aus organisierten „Aktion T4“ werden die Geschehnisse der Jahre 1942 bis 1945 in den Anstalten des Deutschen Reichs in der Geschichtswissenschaft als dezentrale „Euthanasie“ bezeichnet. Der Begriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Vorgänge und Tathandlungen umfasst, soll verdeutlichen, dass die Initiative, die Einflussmöglichkeiten und Selektionsentscheidungen nun in weit höherem Maße bei Personen vor Ort lagen. Die Administration in der Tiergartenstraße 4 in Berlin bestimmte jedoch – in Abstimmung mit der staatlichen Gesundheitsverwaltung im Reichsinnenministerium und dem Reichsbeauftragten für die katastrophenmedizinische Versorgung luftkriegsgefährdeter Gebiete, Karl Brandt („Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen“) – die Rahmenbedingungen des Geschehens. Insbesondere wurde der Zugriff von militärischen und zivilen Stellen auf Heil- und Pflegeanstalten bzw. auf einzelne Häuser und Station ermöglicht, um dem wachsenden Bettenbedarf gerecht zu werden. Stand die „Aktion T4“ unter dem Zeichen einer zu Beginn des Krieges entfalteten völkischen Utopie, so war die dezentrale „Euthanasie“ gekennzeichnet von den Verdrängungseffekten im Zuge der sich verschlechternden Kriegssituation.
In den Jahren von 1942 bis 1945 befanden sich in der LHA Weilmünster durchgängig über 1500 Patient:innen. Es herrschten katastrophale hygienische Verhältnisse, die Versorgung mit Nahrungsmittel war sehr schlecht. Dass diese Bedingungen für eine Vielzahl den sicheren Tod bedeuten musste, war den Beteiligten und Verantwortlichen klar. Die Sterberate lag in den Jahren zwischen September 1941 und März 1945 immer zwischen 25 und 50 Prozent. Die Menschen starben nicht allein aufgrund der geschaffenen Verhältnisse (Überbelegung und Mangelversorgung), sondern auch an Misshandlungen und überdosierten Medikamentengaben. Besonders Haus III (mit den Frauenstationen FIIIu/o und den Männerstationen MIIIu/o) galt ab 1942 als „Todeshaus“. In den IIIer-Stationen waren im Jahr 1941 bereits die zur Ermordung in Hadamar vorgesehenen „Zwischenanstalts“-Patient:innen untergebracht gewesen. Wie eng das Geschehen in Weilmünster mit dem in Hadamar verknüpft war, zeigt sich auch beim Personal. Von April bis August 1942 arbeiteten sieben von der „T4“-Zentrale angestellte Schwestern und Pfleger sowie eine Verwaltungsangestellte in Weilmünster, die zuvor während der Gasmordphase in Hadamar Dienst getan hatten. Im August 1942 gingen sie teilweise wieder nach Hadamar zurück.
Ab Mitte 1944 verschärfte sich die Situation noch einmal, weil einige Anstaltsgebäude in Weilmünster als Ausweichquartier für Frankfurter Krankenhäuser beansprucht wurden. Was als ein logistisches Problem zum Kriegsende erscheint (Bettenmangel), war nach fünf Jahren „Euthanasie“-Morden nur ein weiterer Anlass, Patient:innen zu beseitigen.