Der Nachweis des Todesstatus
Im Zusammenhang mit den Tathandlungen der NS-„Euthanasie“ tritt häufig das Problem des Nachweises auf: Woran genau ist eine Person gestorben und mit welcher Sicherheit lässt sich sagen, dass sie ermordet wurde?
Das Problem resultiert aus der Organisation der Taten einerseits und der unzureichenden Strafverfolgung nach Kriegsende andererseits. In den „Kinderfachabteilungen“ und im Rahmen der dezentralen „Euthanasie“ wurden zahlreiche Patienten und Patientinnen gezielt unterernährt. Diese Schwächung im Verbund mit mangelndem Brennstoffeinsatz im Winter und häufig sehr schlechten hygienischen Verhältnissen führte zur gewünschten Erhöhung der Sterbefallzahlen. Zusätzlich wurden vielerorts hohen Dosen von Beruhigungsmittel gegeben. Durch die so ausgelöste flache Atmung im Dämmerschlaf bei allgemein schlechter Verfassung stellten sich – abermals intendiert – Lungenentzündungen ein. In all diesen Fällen war es bei der Beurkundung des Sterbefalls möglich, Marasmus (Entkräftung) oder Pneumonie (Lungenentzündung) anzugeben. Falschmedikation und Unterernährung ließen sich so auf der Aktenseite leicht tarnen. Wenn zudem nach der Befreiung 1945 nicht zeitnah Untersuchungen angestellt, Zeugenaussagen festgehalten und Spuren gesichert wurden, konnten entsprechende Taten bald nur noch schwer nachgewiesen werden.
Wie lassen sich solche Tathandlungen heute nachweisen? Gibt es Anhaltspunkte, um solche Geschehnisse mit hinreichender Gewissheit zu identifizieren?
Es liegen keineswegs in allen Fällen Aussagen von Tatbeteiligten vor, zudem ist auf sie nicht immer Verlass. Nur in der Verknüpfung mit weiteren Aussagen, mit Sachbeweisen und anderen Indizien können sie fruchtbar gemacht werden. Zu diesen Indizien zählen:
– Die Etikettierung von Einrichtungen als „Kinderfachabteilungen“. Die Abläufe, die durch den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ etabliert wurden, dienten erwiesenermaßen der Selektion, Einweisung und Ermordung von Kindern und Jugendlichen. War eine Einrichtung in diese Modi einbezogen, so waren die dortigen Patient:innen mit hoher Wahrscheinlichkeit Mordopfer.
– Deutlich erhöhte Sterbefallzahlen. Dieser sogenannte statistische Nachweis ist von erheblicher Bedeutung. Es gibt in Zeiten ohne Epidemien und direkte Kriegseinwirkungen keinen Grund, warum plötzlich eine signifikant höhere Zahl von Menschen in einer Einrichtung sterben sollte als in anderen, früheren Jahren.
– Nachweis der Mangelernährung in einer Anstalt. Oftmals haben externe Zeugen, in der Einrichtung Beschäftigte oder auch unmittelbar Tatbeteiligte eingeräumt, dass die Patient:innen völlig unzureichend ernährt wurden, haben dies aber zu ihrer Entlastung als unabwendbar dargestellt.
– Das Erscheinungsbild der Leichname. Häufig haben Angehörige oder andere Zeugen den Zustand der Leichen als extrem abgemagert beschrieben.
– Der Nachweis einzelner Tötungen durch Aussagen Tatbeteiligter. Aufgrund eher zufälliger Umstände wurden manchmal einzelne Taten eingestanden. Daraus lassen sich gegebenenfalls Schlüsse auf das Vorgehen insgesamt ziehen.
– Nachweise auf Basis der Krankenakten aus der NS-Zeit (soweit vorhanden). Hier sind es insbesondere drei Faktoren, die auf intentionale Tötungen verweisen. 1) Die wiederkehrende stereotype Bestimmung der Todesursachen als Marasmus, Pneumonie, Bronchopneumonie, Bronchitis oder Lungenentzündung. 2) Mehrere Einträge in die Krankenakte unter verschiedenen Datumsangaben bis zum Sterbetag (einschließlich „Exitus“), die offenkundig am selben Tag, mit gleichem Stift und in gleicher Schrift verfasst wurden. 3) In der Fallakte vermerkte Gewichtsverluste und im Kontrast dazu, eine auffällige Gewichtszunahme kurz vor dem Tod. Die letzten Eintragungen sollten über den anhaltenden Nahrungsmittelentzug hinwegtäuschen.
Im Zusammenhang mit den Nachweisproblemen steht auch die Errechnung der Gesamtopferzahl einer Einrichtung der NS-„Euthanasie“. Wie lässt sie sich ermitteln?
Manchmal wird in Untersuchungen eine pauschale Zahl von Sterbefällen von der Gesamtzahl der gestorbenen Personen im entsprechenden Zeitraum abgezogen, weil angenommen wird, dass es eine gewisse Zahl natürlicher Todesfälle gegeben hat. Die Problematik solcher Rechenoperationen liegt auf der Hand – die Festlegung dieser Zahl ist willkürlich. Vor allem aber stellt sich ein systematisches Problem: Arbeitsfähigkeit und Nützlichkeit erhöhten die Chance, am Leben zu bleiben. Wenn also umgekehrt Krankheit, Erschöpfung und Bettlägerigkeit Anlass für die Beseitigung eines Menschen waren, konnte es kaum noch zu natürlichen Sterbefällen kommen: Die Menschen wurden ermordet, bevor sie sterben konnten. Ohnehin lässt sich das Krankheitsgeschehen in der Regel nicht abkoppeln von den Verhältnissen in der Einrichtung, hier vom Mangel an Nahrung, Hygiene und Wärme.
Zu klären ist auch die Frage nach dem Zeitraum der NS-„Euthanasie“: Welche Jahre müssen in eine Untersuchung einbezogen werden? Häufig verschärfte sich die Situation in verschiedenen Einrichtungen, auf unterschiedlichen Stationen oder in bestimmten Häusern bereits zwischen 1936 und 1939, bevor schließlich mit Kriegsbeginn, manchmal auch erst 1941/42 die Sterbeziffer deutlich anstieg. Ebenfalls hat sich gezeigt, dass oftmals auch Sterbefälle nach Kriegsende, insbesondere im ersten Jahr nach der Befreiung, als unmittelbare Folgen der zuvor geschaffenen Unterversorgung anzusehen sind.
Die Eingrenzung des Zeitraums für Weilmünster
Auch für Weilmünster gilt, dass die Bestimmung der Opfer dieser Einrichtung der NS-„Euthanasie“ mit Unsicherheiten behaftet ist. Weilmünster hatte als Einrichtung des Bezirksverbands Nassau eine herausgehobene Funktion. So wurden hier ab 1937/38 bereits jüdische Patient:innen aus anderen Einrichtungen des Bezirksverbands gesammelt. Ab 1941 fungierte die Einrichtung im Rahmen der „Aktion T4“ als „Zwischenanstalt“ für Hadamar. Bereits vor dem Stopp der „Aktion T4“ im August 1941 erhöhte sich die Sterberate in Weilmünster. Und ähnlich wie in den „Zwischenanstalten“ Idstein und Eichberg, wurden nach dem Stopp die ursprünglich für Hadamar bestimmten Patient:innen nun vor Ort getötet. In den Jahren danach wurde die Anstalt einbezogen in die dezentrale „Euthanasie“: Der Bezirksverband Nassau signalisiert 1943 die ständige Bereitschaft zur Aufnahme von Patient:innen aus Einrichtungen nord- und westdeutscher Großstädte (z.B. aus Hamburg, Bremen, Köln). Diese Menschen wurden verdrängt – Räume und Betten kamen Akutpatient:innen und Soldaten zugute. Die Zahl der unter diesen Umständen in die Anstalten des Bezirksverbands verlegten Personen, die den Krieg überlebt haben, ist erschreckend gering.
Im Sommer 1939 wurde die politische Entscheidung gefällt, reichsweit Anstaltspatient:innen systematisch umzubringen. Dies ging weit über die vorherige politisch gewollte Minderversorgung hinaus. Mit Kriegsbeginn im September 1939 wurde dieses Vorhaben umgesetzt. Aus diesem Grund wurden alle Todesfälle ab September 1939 in die Liste der Weilmünster-Opfer aufgenommen. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch einzelne Fälle aus der Zeit davor (ab 1937) als absichtsvoll herbeigeführte Sterbefälle angesehen werden können. Wie dargelegt, haftet jeder Zäsur ein willkürliches Moment an. Bereits in den Jahren 1937 bis 1939 war die Sterberate in Weilmünster erhöht, so lag sie etwas im Jahr 1939 bei ca. 11 Prozent. Im Jahr 1940 stieg sie auf über 30 Prozent. 1941 sank die Sterberate noch einmal, um in den Jahren 1942 bis 1944 zwischen 38 und 51 Prozent zu pendeln. Die Sterbefallzahlen offenbaren, dass Weilmünster ab Sommer 1941 als Tötungsanstalt angesehen werden muss. Einige Zeugenaussagen bestätigen die katastrophalen Zustände in dieser Phase.
Gleichwohl die Sterberate nach dem Eintreffen der Alliierten deutlich sank, war eine nicht geringe Zahl derer, die das Kriegsende in der LHA Weilmünster erlebten, so geschwächt, dass sie in den darauffolgenden Monaten starben. Deswegen wurden die Sterbefälle bis Ende 1945 in die Tabelle aufgenommen. So soll dieser nicht genau zu bestimmende Aspekt des Geschehens einbezogen werden. Auch in der Zeit danach können Patienten und Patientinnen noch an den Folgen der Unterbringungen gestorben sein.
Ebenso ist denkbar, dass – in dieser Zeitspanne, aber auch zuvor – eine Person, die nicht allzu lange den nachweisbar schlechten Bedingungen in Weilmünster ausgesetzt war und sehr plötzlich starb (etwa an einem Herzschlag) als natürlicher Todesfall und nicht als Opfer der NS-„Euthanasie“ anzusehen wäre. Da die Patientenakten der Einrichtung nicht überliefert sind (die Umstände ihres Verschwindens sind bislang ungeklärt), lässt sich nicht rekonstruieren, ob es solche oder vergleichbare Fälle gegeben hat und wenn ja, wie häufig. Umgekehrt erscheint es wenig zufriedenstellend, auf der Basis der Annahme einer bestimmten Quote natürlicher Sterbefälle willkürlich eine Reihe von Namen nicht in die Liste aufzunehmen, denn welche sollten das sein, nach welchen Kriterien sollten sie ausgewählt werden?