Der nicht stattgefundene Weilmünster Prozess

Dr. Ernst Schneider und der nicht stattgefundene Weilmünster-Prozess

Während es an den Standorten der NS-„Euthanasie“ in Hadamar, Idstein und Eichberg/Eltville zu Prozessen gegen die Tatbeteiligten und zu Verurteilungen wegen der dort begangenen NS-Massenverbrechen gekommen ist, erfolgte keine Aburteilung der Täter:innen von Weilmünster.

Gegen den ärztlichen Leiter der Anstalt Weilmünster, Dr. Ernst Schneider, war 1945 ein Verfahren wegen seiner vermuteten Beteiligung an der „Aktion T4“ in Hadamar eingeleitet worden. Untersucht wurde hierbei zum einen die „Verlegung“ tausender Anstaltspatient:innen in die Gasmordanstalt Hadamar; es bestand aber auch der Verdacht, in Weilmünster selbst sei systematisch gemordet worden.

Die Spruchkammer Oberlahn (Weilburg) hatte Schneider, der zu diesem Zeitpunkt nach wie vor in Weilmünster lebte, am 6. Oktober 1947 im Zuge eines Spruchkammerverfahrens in die Gruppe IV der „Mitläufer“ eingestuft. Als Sühnemaßnahme wurden ihm die Kosten des Verfahrens wie auch eine Geldstrafe auferlegt. Den am 1. April 1933 erfolgten Eintritt in die NSDAP begründete Schneider mit dem Motiv, dadurch „die Arbeitslosigkeit steuern zu können“. Die Spruchkammer hielt ihm zugute, bei „öffentlichen Veranstaltungen weder in Uniform noch sonstwie politisch in Erscheinung“ getreten zu sein. Folglich habe er den Nationalsozialismus nicht wesentlich unterstützt. Die Beteiligung Schneiders an den „von Bernotat angeordneten Verlegungen, von denen er nach einiger Zeit wußte“, habe er nicht verhindern können. Den von Schneider nach seinen Angaben in der LHA Weilmünster geleisteten „Widerstand“ wertete die Spruchkammer allerdings als „passiv und nicht ausreichend.“ Hätte Schneider „gerade im Hinblick auf die Euthanasie wirklich aktiven Widerstand nach dem Maße seiner Kräfte geleistet, so wäre er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr lange in seinem Amt verblieben.“ Schneider hatte im Spruchkammerverfahren behauptet, „Widerstand“ gegen die Krankenmorde nur soweit betrieben zu haben, um in der Position bleiben zu können, aus der heraus er „Angehörige gewarnt“ habe. Schließlich sei er, wie von „verschiedenen Zeugen bekundet“ , „Gegner des Euthanasie-Programms und auch einer Reihe anderer nationalsozialistischer Ideen und Methoden“.

Gänzlich unberücksichtigt blieben im Spruchkammerverfahren die Eingaben ehemaliger Insass:innen der Anstalt Weilmünster, die detaillierte Schilderungen der dortigen, todbringenden Verhältnisse vorbrachten. Den Zeug:innen wurde unterstellt, diese Angaben seien „übertrieben und zum Teil märchenhaft“, beruhten auf deren „querulatorisch paranoide(n) Natur“ und seien Ausdruck einer „krankhaften Veranlagung“. Im Falle einer Zeugin stützte sich die Spruchkammer gar auf eine „ärztliche Feststellung“ aus dem Jahr 1939 und behauptete, zu dieser Zeit habe „der Gedanke der Euthanasie noch in keiner Weise irgendwelche praktische Formen angenommen“. Daher könne sie den Angaben „keinen Glauben“ schenken.

Die Unterstützung Schneiders durch den Kreisarzt und Direktor des Weilburger Krankenhauses, Dr. Alois Hohmann, der im Spruchkammerverfahren nahelegte, Schneider habe mit dem NS-System nicht übereingestimmt, wie auch durch den örtlichen katholischen Geistlichen, der berichtete, die Einstellung Schneiders sei „stets freundlich“ gewesen, runden das Bild ab und bewirken eine Umkehrung der Verhältnisse: Das unermessliche Leid der Opfer blieb unberücksichtigt.

Im Jahr 1947 wendete sich der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Frankfurt an die Polizeistelle in Weilmünster und erkundigte sich nach den „Kranken- und Personalakten“ der am 10. Januar 1910 in Lorsch/Bensheim geborenen Dorothea Kilian, die am 11. Mai 1941 in Weilmünster zu Tode kam. (Sie war am 22. März 1941 in die Anstalt gebracht worden.) Daraufhin wurde Ernst Schneider als ehemaliger Direktor der Anstalt zum Bürgermeister des Marktfleckens Weilmünster vorgeladen. Er erklärte: „Der Fall Kilian ist mir bekannt. Die Patientin ist an Miliar-TBC verstorben.“ Die Sterbeurkunde von Dorothea Kilian, ausgestellt im Standesamt des Rathauses und somit in unmittelbarer räumlicher Reichweite des Ortes der Zeugenaussage weist „Pleuritis“ als Todesursache aus. Erstaunlich, dass der Bürgermeister, der die Aussage von Schneider zu protokollieren hatte, keine Überprüfung vornahm; ebenso erstaunlich die Tatsache, dass der ehemalige Leiter der Anstalt Weilmünster bei mehr als dreitausend Sterbefällen in der Zeit von 1939 bis 1945 vorgab, sämtliche der vermeintlichen Sterbeursachen im Blick zu haben. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt ging der Sache weiter nach und fordert die Patientenakte von Dorothea Kilian aus Weilmünster an. Der als Gutachter bestellte Regierungs-Medizinalrat Dr. Kohl stellte nach der Lektüre einerseits fest, es widerspreche der ärztlichen Ethik, „einen solch kranken Patienten auf Transport zu schicken“. Zugleich behauptete er, die Patientin sei an „Brustfell- und Lungenentzündung“ verstorben und „nicht einer Euthanasiebehandlung zum Opfer gefallen“.

Eine Vielzahl von Anfragen Angehöriger aber auch Überlebender erreicht Ende der 1940er und Anfang der 50er Jahre die ermittelnde Behörde. Die Schilderungen der Überlebenden wie auch der Angehörigen liefern erdrückende Hinweise, dass „Sterbefälle“ in Weilmünster aktiv herbeigeführt worden sind. In unterschiedlichen Facetten werden die brutalen Misshandlungen in der Anstalt Weilmünster aus der Perspektive von Überlebenden beschrieben, die zum Teil seitenweise Eingaben an Staatsanwaltschaft und Gericht übersenden.

Besonderes Gewicht hat ein Schreiben des Oberstaatsanwaltes beim Landgericht in Mannheim und Heidelberg vom 4. September 1947. Unter dem Betreff „Tötung Geisteskranker“ wird mitgeteilt, in der Klinik in Heidelberg befinde sich eine „grössere Anzahl von Gehirnen Geisteskranker (…) die aus der Anstalt Weilmünster stammen“. Aus den Krankenblättern ergebe sich mit „ziemlicher Sicherheit, dass die betreffenden Kranken in der Anstalt Weilmünster getötet worden sind.“ In einer beigefügten Tabelle sind die Namen von 15 Menschen mit dem Datum der „Verlegung“ nach Weilmünster wie auch dem Sterbedatum aufgeführt. Die Universitätsklinik Heidelberg übersendete die 15 Krankengeschichten an den Oberstaatsanwalt zur Einsichtnahme.

Der Witwer von Frieda Möllering, geboren am 16. April 1890, wendete sich im Februar 1948 an die Generalstaatsanwaltschaft Hamm/Westfalen und berichtet vom Schicksal seiner Frau, die zunächst in der Provinzial-Heilanstalt Lengerich lebte und im Herbst 1941 nach Weilmünster gebracht wurde. Im Mai 1942 sei ihm die Nachricht vom Tod seiner Ehefrau zugegangen. Vor der Beerdigung sei es ihm möglich gewesen, die Leiche seiner Frau in Augenschein zu nehmen, die „in einem erbarmungswürdigen Zustand, vollkommen zum Skelett abgemagert“ gewesen sei. Der Direktor der Anstalt habe ihm mitgeteilt, Frieda Möllering sei „an Entkräftung“ gestorben. Franz Möllering bot an, die „Angaben vor Gericht zu Protokoll zu geben und zu beeiden, damit die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden können“.

Im Falle der 15 dem Oberstaatsanwalt zugesandten Akten erfolgte wiederum eine Auswertung durch Medizinalrat Dr. Kohl, der als bestellter Gutachter in der überwiegenden Zahl der untersuchten Fälle zum Schluss kommt, dass „Euthanasie nicht ausgeschlossen“ oder „sehr leicht möglich“ sei. Trotz der erdrückenden Anhaltspunkte, der Stellungnahmen des gerichtlich bestellten Gutachters und der Eingaben von Angehörigen und Überlebenden folgte der Staatsanwalt im Wesentlichen der Argumentation des Anstaltsdirektors Schneider und stellte am 30. November 1949 fest:

„In der Heilanstalt Weilmünster, die von dem Arzt Dr. Schneider geleitet wurde, sind selbst irgendwelche Tötungen oder Misshandlungen nicht zweifelsfrei (nachträglich mit Bleistift eingefügt) feststellbar. Die hohe Sterblichkeit in der Anstalt während des Krieges ist einmal auf die Überfüllung und den Zugang besonders anfälliger Kranker zurückzuführen. Die mangelhafte Verpflegung war auch durch die Kriegsverhältnisse bedingt und wenn auch nach dem Gutachten des Reg.- Medizinalrats Dr. Kohl vom 6.1.1949 in einigen Fällen der Verdacht besteht, dass Kranke durch Überdosierungen mit Schlafmitteln getötet wurden, so ist ein Beweis hierfür nicht beizubringen. Es muss damit gerechnet werden, dass auch durch seuchenartige Erkrankungen die Sterblichkeit während des Krieges besonders erhöht wurde.“ Damit folgt der Staatsanwalt der Argumentation des Anstaltspersonals, das wiederholt die kriegsbedingten Umstände als ursächlich für die tausendfachen Sterbefälle in Weilmünster anführte um eine Strafverfolgung der Taten zu vereiteln.

Die Ermittlungen gegen die Täter:innen von Weilmünster wurden 1952 durch die Limburger Staatsanwaltschaft wieder aufgenommen. Schließlich wurde Dr. Ernst Schneider als Hauptverantwortlicher im Jahr 1953 „außer Verfolgung“ gesetzt. Hilfreich für seine Entlastung waren nicht nur die in Argumentationsstruktur und sprachlicher Struktur gleichförmigen Aussagen der Angestellten der LHA Weilmünster, sondern auch die seines unmittelbaren Umfeldes an seinem Wohnort in Weilmünster. Ernst Schneider interpretierte die Einstellung des Verfahrens als „Freispruch“ und unternahm vielfache Versuche, die im Rahmen des Verfahrens entstandenen Kosten abzuwenden. Bis zuletzt leugnete er jegliche Beteiligung an den Krankenmorden und stellte sich als Opfer dar. Er habe die tausendfachen Deportationen nach Hadamar und die „Euthanasie“ „nach dem Maße“ seiner „Kräfte sabotiert“. Ernst Schneider lebte unbehelligt bis zu seinem Tod im Jahr 1960 in Weilmünster und erhielt eine auskömmliche Rente für die von ihm ausgeübte Berufstätigkeit als Direktor der Anstalt Weilmünster

Quellen und Literatur

HHStA Wi Abt. 520/29, Nr. 380 (Spruchkammerakte Dr. Ernst Schneider)

HHStA Wi Abt. 463, Nr. 1154

HHStA Wi Abt. 463, Nr. 1165

Peter Sandner: Die Landesheilanstalt Weilmünster im Nationalsozialismus. In: 100 Jahre Krankenhaus Weilmünster 1897–1997. Heilanstalt Sanatorium Kliniken, Hrsg. v. LWV Hessen. Kassel 1997, S. 121-164.