Die Namen der Ermordeten
In der Tötungs- und „Zwischenanstalt“ Weilmünster kamen in der Zeit von 1939 bis 1945 weit über 3000 Menschen gewaltsam zu Tode, sie stammten zumeist aus verschiedenen Regionen des damaligen Deutschen Reiches. Die genaueren Umstände der überwiegenden Zahl dieser Sterbefälle lässt sich nicht rekonstruieren, weil die Patientenakten der in Weilmünster Ermordeten in den 1980er Jahren beseitigt wurden.
Für die Ermordeten wurden im Standesamt Weilmünster Sterbeurkunden ausgefertigt. In diesen Dokumenten sind die tatsächlichen Todesursachen nicht erwähnt: planvolles Verhungernlassen, gezielte Inkaufnahme des Todes durch Vernachlässigung, Gabe überdosierter Medikamente. Vielmehr haben die amtlicherseits mit falschen, nämlich vorgeblich natürlichen Todesursachen versehenen und im Personenstandsarchiv Marburg archivierten Sterbeurkunden bis heute Gültigkeit. Da es sich um historisches Schriftgut handelt, ist eine Korrektur dieser auch digital verfügbaren Dokumente im Sinne der Opfer bislang nicht möglich.
Das Gedenkbuch Weilmünster macht die Namen der in der LHA Weilmünster Ermordeten zugänglich für das Gedenken und die Forschung.
Bis vor wenigen Jahren sollten die vollständigen Namen von Opfern der NS-„Euthanasie“ unter Verweis auf „schutzwürdige Belange Dritter“ gemäß Bundesarchivgesetz (BArchG) nicht öffentlich genannt werden. Die Notwendigkeit der Anonymisierung wurde u.a. mit den Persönlichkeitsrechten von Angehörigen der Ermordeten begründet.
Der ehemalige Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs Berlin, Dr. Ehrhard Körting, stellte in seinem 2014 veröffentlichten Gutachten zur Namensnennung von Opfern der NS-„Euthanasie“ fest, dass sich weder aus dem in Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz verankerten „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“ noch aus dem auf Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz gestützten „postmortalen Persönlichkeitsrecht“ herleiten lasse, „dass die vollen Namen, einschließlich Geburts- und Sterbedaten der Opfer nicht auf einem Denkmal oder in einem entsprechenden Gedenkbuch genannt werden dürfen.“ Diese Rechtsauffassung, so Körting, gelte „auch, wenn das Gedenkbuch im Internet zugänglich sei.“ Es gehe darum, den „ermordeten Opfern (…) Gesicht und Namen zu geben, sie aus der Namenlosigkeit, der Anonymität herauszuholen, ihren gleichberechtigten Wert als Glieder unserer Gesellschaft zu betonen.“ Körting betonte, es sei eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, das „verbrecherische Programm“ der NS-Krankenmorde „immer wieder in Erinnerung zu rufen“. Dies sei am ehesten möglich, wenn die Opfer von 1939-1945 nicht anonym blieben.
Angehörige müssen häufig hohe Hürden überwinden, wenn sie sich auf den Weg machen, ein Schicksal aufzuklären. Das Gedenkbuch Weilmünster ermöglicht die Recherche nach Familienmitgliedern, die in der familiären Überlieferung häufig nicht vorkommen und von denen nicht bekannt ist, wo und unter welchen Umständen sie starben. Auch lokalen Erinnerungsinitiativen unterbreitet das Gedenkbuch Weilmünster ein Angebot, die Erinnerungsarbeit vor Ort zu gestalten.
Gemäß der Intention der Tatbeteiligten wurden die näheren Tatumstände verschleiert und Angehörigen, Ämtern und Behörden gegenüber, falsche Angaben gemacht. Die korrekten Namen, Daten und Abläufe zu nennen, die Vorgänge in der LHA Weilmünster in einen historischen Kontext zu stellen ist, ist die Absicht des Gedenkbuchs Weilmünster. Es eröffnet die Möglichkeit der namentlichen Erinnerung an Menschen, deren Schicksal bis heute fast vollständig vergessen ist. Nicht zuletzt, weil der Tatort Weilmünster auch in der Geschichtsschreibung wenig Beachtung gefunden hat.