Irmgard Heiss wurde am 6.4.1897 als Irmgard Stellbrink in Münster, Westfalen, als zweitjüngstes von fünf Kindern geboren. 1903 zieht die Familie nach Detmold. Sie gilt als begabt, möchte ihre Stimme ausbilden lassen und Künstlerin werden. 1917 geht sie für einige Zeit ohne Wissen der Familie nach Berlin und arbeitet im gerade fertiggestellten Telegrafenamt. Kurz vor der Revolution kehrt sie zurück nach Westfalen und heiratet einen Bergmann, mit dem sie nach Langendreer bei Bochum zieht. Als junge Mutter erlebt sie schwierige Jahre im Ruhrgebiet, in denen ihr Mann, der politisch aktiv in der USPD – später KPD ist, in Untersuchungshaft kommt. Daraufhin kehrt sie mit zwei kleinen Kindern und erneut schwanger in ihr Elternhaus zurück. Sie bittet dort um Unterstützung, die ihr aber verwehrt wird. Ihr Ehemann kommt seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nach, sie ist entschlossen die Kinder allein durchzubringen. Mit ihrer Familie gerät sie in Streit, weil die Eltern ihr kein Zimmer in dem großen Haus zur Verfügung stellen, in dem sie ihren Plan umsetzen kann, sich und die Kinder mit Nähen über Wasser zu halten. Sie gilt als geschickte Handarbeiterin und strebt die Scheidung an wegen „unwürdiger Behandlung und Gewalt“, wie sie einem Arzt anvertraut.

Nach einem Aufenthalt in einem frühen Frauenhaus in Bielefeld, der „Frauenherberge“, in der sie Zuflucht mit den Kindern gefunden hat, erkrankt sie und muss nun die Kinder in Pflegefamilien unterbringen. Wenn sie sie besucht, stiehlt sie, um ihnen etwas mitzubringen. Nach der Geburt ihrer Tochter wird sie wegen ihrer nervösen Unruhe in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen, gilt den Ärzten aber nicht als krank, sondern wird als „psychopathisch minderwertig“ bezeichnet. Zu ihrem Mann will sie nicht zurück.

Wieder entlassen, streben ihre Eltern dennoch ihre Entmündigung an. Als sie in einer Anstalt zu einer Begutachtung zwangsweise vorgeführt werden soll, taucht sie in Münster unter, arbeitet dort unter falschem Namen als Fabrikarbeiterin, erkrankt aber erneut mit einer Lungenentzündung. Im Krankenhaus unternimmt sie einen Suizidversuch, weil sie, wie sie sagt, „überflüssig auf der Welt“ ist. Nun wird sie 1929 entmündigt und erhält eine Schizophrenie-Diagnose. Zehn Jahre ist sie in der Anstalt Lengerich in Westfalen, bis sie am 26. August 1941 mit dem letzten Transport von dort gemeinsam mit 200 anderen Patienten nach Weilmünster deportiert wird. Eine Woche zuvor hatte Hitler den Stopp der Vergasungen angeordnet. Sie hat „Verhungerungsangst“ und hält dort noch wenige Jahre unter Zwang den Betrieb in der völlig überfüllten Anstalt als Arbeitspatientin mit aufrecht, bis ihre Kräfte erschöpft sind. Sie bittet immer wieder um Material für Handarbeiten, wie z.B. Okyspitze. Dies wohl auch, um in Kontakt mit ihrer Familie in Detmold zu bleiben. Doch im Jahr 1943 versiegt der Austausch, bis folgende Nachricht die Schwestern erreicht: „Der Gesundheitszustand Ihrer Schwester, Frau Irmgard Heiss, geboren am 6. April 1897, hat sich in den letzten Tagen derart verschlechtert, dass er zu ernsten Befürchtungen Anlass gibt. Besuch ist zu jeder Zeit gestattet. Diese Zeilen bitte ich an der Pforte der Anstalt vorzuweisen, damit Sie eingelassen werden. Gez. Direktor Obermedizinalrat Schneider. Als sie wider Erwarten dort noch lebend abgeholt wird, wird sie als ein „Skelett, dem man einen Mantel umgehängt hat“, beschrieben. Sie stirbt im Oktober 1944, offiziell an Tuberkulose.

Nach ihrer Ankunft in Weilmünster schrieb sie am 30. 11. 1941 an die Schwester: …Dein Kuchengruß ging hier ein am 24., allerherzlichsten Dank, auch meiner lb. Hilda für ihre Grüße, die ich innigst erwidere. Das war ein seltener Genuß, da es sowas hier nie gibt, nur käuflich mal wie Käsekuchen, aber nur für Pflegerinnen hauptsächlich, auch andere Qualitätssachen, wie Fleisch, Wurst, Eier, Milch, gute Butter, gehören ins Reich der Sage so ungefähr, denn das tägliche Marmeladenbrot u. manchmal Margarine, wie Sonntags fürs Käsebrot u. Quarkkartoffeln mal abends ist eine mehr als einfache Kost wohl…

An einem Brief ihres Sohnes von 1940 vermerkte sie am Rand: Ich weiß gar nicht, ob ich schon richtig gelebt habe. Bewusst jedenfalls nicht, darauf warte ich noch. Nur krank stellenweise und gehemmt. Und frei, aber verpönt.

Autorin: Barbara Stellbrink-Kesy, (Berlin)

Quellen

Briefe und Porträt um 1920: Archiv der Hansestadt Lübeck, Findbuch 05.5

Landesarchiv NRW, Abtlg. Detmold L 107 D Nr. 1893 I+II

Objekt: Familienarchiv B. Stellbrink-Kesy