Wilhelm Lange aus Plön
Wilhelm Lange wurde am 29. Mai 1885 in Plön als Sohn von Auguste Lange geb. Bodenstab und dem Maler Johannes Lange geboren. Er wuchs mit zwei Brüdern auf. Nachdem er die Volksschule absolviert hatte, ging er in einem „Baumaterialiengeschäft“ in die Lehre. Um das Jahr 1902 wanderte er nach „Amerika“ aus; mutmaßlich auch, um dem Militärdienst zu entgehen. Das Geld für die Überfahrt erhielt er von seiner Mutter. Von New York aus ging er zu Verwandten nach San Francisco, half in der dortigen Metzgerei aus und heiratete die Witwe Luise Lützenhoff. Aus der Ehe ging ein gemeinsamer Sohn hervor. Infolge des großen Erdbebens in San Francisco im Jahr 1906 verlor er seine Arbeit und übte unterschiedlichste Betätigungen aus. Die Ehe wurde geschieden und Wilhelm Lange erlitt im Jahr 1916 einen schweren Verkehrsunfall mit Kopfverletzung. In der Folge wurde ein Krankenhausaufenthalt und anschließend eine Unterbringung in einer Heilanstalt notwendig. Die Kosten für die medizinische Behandlung wurden vom Verursacher des Unfalls übernommen.
Wilhelm Lange trat nach seiner Gesundung wieder ins Berufsleben ein. Die Prohibitionsgesetzgebung in den USA der 20er Jahre erschwerte ihm die Ausübung seiner Tätigkeit als Büffetmann, sodass er im Jahr 1926 nach Deutschland zurückkehrte.
Im Deutschen Reich wird er als „staatenlos“ geführt. Zunächst wurde Wilhelm Lange von seinem in Osnabrück lebenden Bruder aufgenommen. Ein Zusammenleben erwies sich nach kurzer Zeit als nicht möglich. Innerfamiliäre Konflikte eskalierten, da Wilhelm Lange verstärkt Alkohol konsumierte. In der Folge einer schwerwiegenden Auseinandersetzung erfolgte 1927 seine Verurteilung zu einer mehrwöchigen Haftstrafe. Es folgen Klinikaufenthalte im Bürgerhospital in Koblenz, in der Universitätsklinik in Köln und schließlich im Frankfurter Markuskrankenhaus. Anlässlich eines erstens Aufenthaltes in der Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt im Jahr 1934 wird gegen Wilhelm Lange eine „Sterilisierungsanzeige wegen Alkoholismus“ eingeleitet. Im Rahmen der zweiten, im Juli 1937 erfolgten Aufnahme in der Nervenklinik Frankfurt wird Wilhelm Lange mit der Diagnose „Chron. Alkoholismus“, „Gemeingefährlichkeit“ und „Psychopathie“ belegt und am 14. Juli 1937 in die Anstalt Weilmünster überstellt, wo er im Obergeschoss des Hauses M5 untergebracht war.
Am 27. August 1937 erhebt der Staatsanwalt beim Landgericht Frankfurt Anklage gegen Wilhelm Lange wegen des Vorwurfs der „Heimtücke“. Der Angeklagte soll „zu Frankfurt am Main im Jahre 1937 gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen gemacht (zu) haben, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben.“
Im Wortlaut soll Wilhelm Lange in Frankfurt am 21. April 1937 erklärt haben, „Hitler sei kein Deutscher, die Reichsregierung sei eine Schwindelregierung und ihre Mitglieder seien lauter Stromer; er könne von den paar Pfennigen Wohlfahrtsunterstützung nicht leben.“ Zudem habe er in Aussicht gestellt, es würde „bald anders werden“.
Zur Vorbereitung des Prozesses erstellt der in Weilmünster als Assistenzarzt tätige Dr. Roth ein mehrseitiges, fachwissenschaftliches Gutachten, für das er dem Gericht RM 42,30 berechnet. Das Entgelt wird seinem Privatkonto bei der Weilburger Sparkasse gutgeschrieben. Er legt den bisherigen Lebenslauf von Wilhelm Lange dar und kommt zu dem Schluss: „Es handelt sich bei Lange um einen haltlosen, süchtigen Psychopathen mit stärkster asozialer Note (…) es handelt sich um einen Menschen, der durch seinen Charakter hart an der Grenze zum Verbrecher steht (…) durch dessen Uneinsichtigkeit und Kritiklosigkeit wohl nie mehr eine Besserung seiner verschrobenen Leidenschaften zu erwarten ist. Auch eine Besserung dieses hartgesottenen Sünders etwa in einer Trinkerheilanstalt halte ich für sinnlos und keinen Erfolg versprechend. Dafür gibt alleine schon die vorhandene Debilität eine fast sichere Garantie des Mißerfolges. In Erwägung und Berücksichtigung dieser Eigenschaften ist auch sein letztes Vergehen, die Beschimpfung der Reichsregierung in trunkenem Zustand zu beurteilen und zu verstehen. Um eine Fortpflanzung eines so verderbten Erbgutes zu unterbinden, ist zunächst die Sterilisierung des Lange (…) baldigst durchzuführen.“ Der Gutachter schlägt unter Hinweis auf § 51 Abs. 2 vor, Wilhelm Lange für „unzurechnungsfähig“ zu erklären und empfiehlt „Um jedoch immerhin noch einen Versuch zur Rückkehr in geordnete Bahnen der bestehenden Ordnung“ zu unternehmen die Unterbringung in einem Arbeitshaus vor.
Am 20. Dezember 1937 tagt das Sondergericht Frankfurt in Weilburg an der Lahn unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Schäfer, Amtsgerichtsrat Todsen, Assessor Tacke wie auch dem Gerichtsreferendar Lommel.
Das Gericht verurteilt den Beschuldigten unter Berufung auf den „Heimtücke-Paragraphen“ zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten und Übernahme der Kosten des Verfahrens.
Nach der Zustellung des Urteils richtet Wilhelm Lange ein Gnadengesuch an das Gericht „in den letzten Jahren wegen der Arbeitslosigkeit“ habe er „genug mitgemacht“ und sei „schwer unterernährt.“ Dieser Bitte, die auch als indirekter Hinweis auf die miserable Ernährungssituation in der Anstalt Weilmünster zu verstehen ist, wird nicht entsprochen. Nach Auffassung des Staatsanwaltes habe die Unterbringung in der Anstalt Weilmünster „mit dem vorliegenden Verfahren nichts zu tun“. Wilhelm Lange flieht am 12. Mai 1938 aus der Anstalt Weilmünster und wird am 20. Juni 1938 von dort offiziell „entlassen“. Am 6. August 1938 erfolgt seine Wiederaufnahme in Weilmünster, von wo aus er am 15. April 1939 polizeilich abgeholt und mutmaßlich sofort in das KZ Flossenbürg überstellt wird . Dort soll er am 8. Oktober 1940 an „metastasierender Allgemeininfektion“ gestorben sein.
Quellen: HHStaWi Abt. 461 Nr. 7770; LWV-Archiv B 19 Nr. 51, 108 und 1169 und 1179. Freundliche Auskunft von Frau Gardy Hubenthal, LWV-Archiv Kassel vom 30. März 2023.