Margarethe Bouillon, mittig im Bild auf dem Schoß ihrer Großmutter sitzend, wurde am 6. November 1911 in Hofheim/Ts. geboren. Ihre Eltern waren Elisabeth Bouillon geb. Köhler und der als Schreiner tätige Philipp Bouillon. Die Familie hatte insgesamt sechs Kinder und lebte in der Krifteler Oberweide. Den Eckdaten der Krankenakte zufolge wuchs Margarethe Bouillon ohne wesentliche Auffälligkeiten auf. Sie durchlief die Regelschule und war später in Privathaushalten tätig. Zum Zeitpunkt ihrer Einlieferung in die Frankfurter Klinik für Nerven- und Gemütskranke am 7. Juli 1933 war sie bei Dr. Jakob Burkhardt in Hattersheim aus Hausmädchen angestellt. Die Einweisung erfolgte durch Dr. med. Lieb, Hattersheim. In der Klinik soll abgeklärt werden, ob Margarethe Boullion womöglich seelisch erkrankt ist. Die zu diesem Zeitpunkt im 22. Lebensjahr stehende Frau klagt, so ist es der Akte zu entnehmen, wiederholt über Schmerzen im Hals, die jedoch  keine organischen Ursachen zu haben scheinen. Im Rahmen der Erstanamnese wird ausführlich auf die Familiengeschichte und mögliche Erkrankungen der Geschwister wie auch der Eltern eingegangen. Die älteste Schwester habe Krampfanfälle, eine andere Schwester sei „Linkshänderin“[1]. Margarethe Bouillon selbst schreibe jedoch mit der rechten Hand wie auch ihre Eltern „Rechtser“ seien.[2]

Die ausführliche Krankengeschichte von Margarethe Bouillon wird, auch mit Blick auf mögliche Kinderkrankheiten, erhoben und in den Kontext der Familiengeschichte gestellt. „In der Familie sonst (sic!) keine Abnormen, keine Taubstummen, Anfälle etc.“ so das Resultat, womit die junge Frau fortan mit dem Makel der „Abnormalität“ gezeichnet ist. Auch die berufliche und damit soziale  Situation von Margarethe Bouillon wird im Rahmen der Anamnese kritisch beleuchtet. Demnach sei sie bisher in „verschiedenen Stellungen“ gewesen. Dies, da sie bei „Tadel“ schnell fortliefe; zudem rege sie „sich schnell auf.“ Mit dem letzten Hinweis wird indirekt auf das im medizinischen Diskurs der Weimarer Zeit häufig bemühte Krankheitsbild der „Nervosität“ oder „Neurasthenie“ verwiesen, das wiederholt in Krankengeschichten und Familienanamnesen angeführt wird, um den Verdachtsfall einer psychischen Erkrankung zu unterfüttern oder das Konstrukt einer „erbkranken“ Familie aufrechtzuerhalten. Margarethe Bouillon wird, auch körperlich,  eingehend untersucht; ihr wird „eigenartiges Verhalten“ zugeschrieben. „Vorlaut und kindlich“ sei sie. Bereits vier Tage nach der Aufnahme in der Frankfurter Klinik hat sie keine Beschwerden mehr, „arbeitet fleißig“. In der Zeit ihres Aufenthaltes in der Frankfurter Klinik für Nerven- und Gemütskranke wird das Befinden von Margarethe Boullion genauestens dokumentiert. Zum Teil erfolgen mehrfach täglich Einträge in der Krankenakte, in welcher auch die ihr verabreichte Medikation dokumentiert ist. Neben Einträgen zur körperlichen und seelischen Verfassung von Margarethe Boullion erfahren wir, dass sie einen Zugang zu Literatur hatte.  In mehreren Akteneinträgen wird dies erwähnt, so auch am 12. Juli 1933: „Pat. beschäftigt sich viel mit lesen (sic!) verhielt sich ruhig bis zum Abend“. Außergewöhnlich sind die von Margarethe Boullion während ihres ersten Aufenthaltes in der Frankfurter Klinik verfassten Texte und Zeichnungen, die in der Akte enthalten sind. Die zum Teil gereimten, (nicht datierten) Texte, häufig in Versform, befassen sich mit dem Pflegepersonal wie auch der Situation in der Klinik, die Margarethe Boullion insgesamt positiv beschreibt. Insbesondere der in der Frankfurter Klinik tätige „Dr. Brosch“ erfährt eine hervorgehobene Würdigung: Margarethe Boullion widmet ihm ein Gedicht, in welchem sie seine aus ihrer Sicht charakterlichen Vorzüge beschreibt; zusätzlich fertigt sie eine Zeichnung von „Dr. Brosch“ an. Obwohl die Texte den Eindruck vermitteln dass sie sich in der Klinik gut aufgehoben fühlt, wünscht sich Margarethe Boullion offenbar, bald wieder  nach Hause gehen zu können, wie sie es in einer weiteren Abfolge von Versen formuliert:

„Wer gestern noch betrübt im Krankenhaus/Der sieht schonmorgens anderst aus/Das alles macht Herr Doktor Brosch./ Wenn wir folgsamm seiner Worte gehorscht/Dann kommen wir baldt wieder nach Haus/Und freuen uns der Blühtenbracht in der Freiheit/Er will das beste für uns all (da Draus/ Daß wir in Freude wieder Wallen/Auf Berges höhn und Tales weit/Zur feien(?) Guten Tat bereit/Erholung schafft uns die Nähe/Wenn wir betrachten die Wunderbare schönheit/In Hain und Flur/Darum bewahr den guten Ton/ (…) Margarete Boullion Kriftel im Taunus“

Bei „Besserung des Befindens“ verbleibt sie bis zum 16. September 1933 in der Frankfurter Klinik, von wo aus sie „wegen Platzmangels“ in die Klinik auf dem Eichberg (Eltville) verlegt wird. Margarethe Boullion wird an Weihnachten 1933 aus Eltville zur ihrer Familie nach Hause entlassen, wo sie fortan lebt. In den kommenden Jahren arbeitet Margarethe Bouillon in verschiedenen Positionen, unter anderem in der Krifteler Schokoladenfabrik und bei der IG Farben in Hoechst. An den jeweiligen Arbeitsstellen ist sie nach Angabe ihrer Eltern jeweils nur wenige Wochen angestellt, schließlich ist sie ab August 1939 gänzlich ohne Beschäftigung. Aufgrund dieser Situation kommt es offenbar zu Differenzen mit ihren Eltern, insbesondere ihrem Vater. Margarethe Boullion begründet den häufigen Wechsel der Arbeitsstellen mit ihrem vorgeblich zu langsamen Arbeitstempo. Sie habe jedoch „so schnell gearbeitet wie die anderen auch“. Anlässlich der Wiederaufnahme in der Frankfurter Klinik für Nerven- und Gemütskranke am 7. Oktober 1939 wird von Margarethe Boullion folgendes Bild gezeichnet: „Zu Hause muss sie in einem Turm schlafen und essen. Dürfe die Wohnküche ihrer Eltern nicht betreten. Der Vater schimpfte mit ihr, weil sie immer von den Leuten weggeschickt werde. Seit etwa 6 Wochen, seit Kriegsbeginn, werfe er ihr auch vor im Traum laut zu sprechen. (…) Sie habe sich (…) aufgeregt, daß sie keine Arbeit mehr bekomme. Sie müsse beim Arbeitsamt schlecht gemacht worden sein. Sie könne es sich sonst nicht anders erklären. Ihr Vater habe sie jetzt hierher geschickt, weil sie Nachts so laut geträumt habe. Sie sei ihm zu viel gewesen zu Hause. Weil sie untersucht werden solle und weil sie nichts zu schaffen gehabt habe.“ Margarethe Boullion wird aus Anlass ihres erneuten Aufenthaltes in der Frankfurter Klinik einem ausführlichen Intelligenztest unterzogen. Ihr werden sowohl mathematische- als auch allgemeine Wissensaufgaben vorgelegt. Wiederholt bittet sie darum, entlassen zu werden und fragt nach ihren Eltern. In der Krankenakte ist ein ausführlicher, offenbar im Oktober 1939 angefertigter handschriftlicher Lebenslauf abgeheftet wie auch zwei Briefe an den Bürgermeister der Gemeinde Kriftel und an „Emil Faust“, in welchem Margarethe Boullion bekräftigt, gesund zu sein und ihre Entlassung nach Hause anzustreben. Im Abgleich mit den im Jahr 1933 verfassten Schriftstücken fällt auf, dass die Handschrift von Margarethe Boullion undeutlicher geworden ist.  Die an die beiden Adressaten verfassten Schreiben liegen der Akte bei, weil sie offenbar nicht zu den Empfängern gelangten. Eine farblich wie von der Gestaltung her ungewöhnliche Aquarellarbeit, die offenbar während des zweiten Klinikaufenthaltes in Frankfurt entstanden ist, liegt der Akte von Margarethe Boullion bei. Während sich die um das pyramidenartige Gebilde gruppierten sprachlichen Fragmente nur schwer einer logischen Deutung erschließen, verweist das zunächst sorgfältig mit Bleistift vorgezeichnete Muster mit der farblich harmonisch abgestimmten Gestaltung auf Aspekte der Persönlichkeit von Margarethe Boullion, die in den ärztlicherseits formulierten Textteilen der Krankenakte keinerlei Berücksichtigung gefunden haben. Am 19. November 1939 wird Margarete Bouillon aus der Frankfurter Klinik in die Anstalt Weilmünster verbracht. Die dortigen,  menschunwürdigen Zustände waren im Jahr 1938 vom Direktor der Frankfurter Universitäts-Nervenklinik, Karl Kleist, offiziell bemängelt worden. Mit der Überführung nach Weilmünster bricht die bis zu diesem Zeitpunkt regelmäßig geführte Akte von Margarethe Boullion ab. Die Situation in der Anstalt Weilmünster nach dem Überfall auf Polen und dem Beginn des 2. Weltkrieges war von systematischer Vernachlässigung, Hunger, Mangelversorgung und absichtsvoll vorenthaltener Pflege geprägt. Die ehemalige Heilanstalt Weilmünster war in der Zeit der Hadamarer Gasmorde „Zwischenanstalt“ für die Tötungsanstalt Hadamar. Um Kapazitäten für die Aufnahme weiterer Anstaltsinsassen aus hessischen Anstalten zu schaffen „schickte die LHA Weilmünster zwischen Mitte Januar und Mitte März 1941 mehr als 750 – und damit die Hälfte – ihrer eigenen Patientinnen und Patienten in die Hadamarer Gaskammer“. Diese Opfer waren zuvor durch das Ausfüllen von „Meldebögen“ nach den Prinzipien „Unheilbarkeit“ und Verneinung der „Arbeitsfähigkeit“  selektiert worden.

Margarethe Bouillon wird am 18. Februar 1941 gemeinsam mit weiteren 70 Anstaltsinsassen aus der Anstalt Weilmünster in die Tötungsanstalt Hadamar „verlegt“ und am gleichen Tag in der dortigen Gaskammer ermordet, indem Kohlenmonoxydgas in den als Duschraum getarnten, gefliesten Tötungsraum geleitet wird. Wie sich die Situation nach der Ankunft in Hadamar dargestellt haben mag, wird aus dem Bericht der Kunstmalerin Clara Schröder nachvollziehbar, die wenige Wochen nach der Ermordung von Margarethe Boullion aus der „Zwischenanstalt“ Eichberg nach Hadamar transportiert wurde und „zurückgestellt“ wurde, weswegen sie eine Aussage im Eichberg-Prozess tätigen konnte:

„Am 17. März 1941 wurde ich mit zahlreichen anderen Kranken nach Hadamar verlegt. … Der Transport erfolgte mit 2 oder 3 großen rotgestrichenen Omnibussen, die voll besetzt waren. Die Fenster waren verhängt, sodass wir nichts sehen konnten. In Hadamar wurden wir hinter dem Frauenflügel ausgeladen und durch einen gedeckten Gang in das Innere des Gebäudes überführt. (…) Im Frauenflügel kamen wir in einen Wachsaal, in dem nur noch eine Reihe Betten stand, während im übrigen Bänke aufgestellt waren. In einer Ecke lagen alte Militärmäntel. Wir mussten uns auskleiden und wurden über den Flur in ein großes Zimmer geführt, den früheren Speisesaal, wo zwei oder drei junge Ärzte saßen. … Aus diesem Raum kam ich unmittelbar in das anstoßende Arztzimmer, wo ein einzelner Arzt im weißen Kittel saß. … Die anderen mit uns nach Hadamar verlegten Kranken mussten, wie ich mich noch erinnere, die im Wachsaal liegenden Militärmäntel überziehen und wurden in das Bad geführt. Wo sich dieses Bad befand, weiß ich nicht. Es wurde ihnen ausdrücklich erklärt, sie müssten jetzt baden und kämen dann ins Bett.“

Die Leiche von Margarethe Boullion wird in den im Keller der Tötungsanstalt installierten Krematoriumsöfen verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verbracht. Die Angehörigen der in Hadamar Ermordeten wurden in der Regel mit etwa 14-tägiger Verzögerung über den Tod ihres Familienmitgliedes an einer „natürlichen Todesursache“ informiert, nachdem sie zuvor eine Mitteilung über die notwendige Verlegung ihres Angehörigen erhalten hatten. Ziel und Zweck dieser Verzögerung war nicht nur, Nachforschungen zu unterbinden, sondern auch, die infolge der verspätet vorgenommen Sterbemeldung vom Kostenträger formal noch anfallenden „Pflegekosten“ vereinnahmen zu können.

[1] Zu der in der Akte genannten Schwester von Margarethe Boullion gibt es eine konkrete Erinnerung in der Familiengeschichte die aufzeigt, mit welcher Intensität sich die rassepolitisch interpretierte „Abweichung“ von der definierten Norm der Rechtshändigkeit in die familiäre Überlieferung eingegraben hat: Frau Karin Schnick, die Großnichte von Margarete Boullion, erinnert sich daran, dass ihre Oma „Linkshänderin“ gewesen sei. Sie „wurde allerdings „umerzogen“ und hat mit rechts geschrieben. Alles andere hat sie mit links gemacht.“ (Nachricht von Frau Karin Schnick vom 12. Februar 2020.)

[2] „Linkshändigkeit“ galt bereits lange vor der Zeit des NS und bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts als Makel. Hinweise auf „Linkshändigkeit“ finden sich wiederholt in erbbiologischen Untersuchungen; offenbar galt sie als Indiz für (erbliche) Abweichung von einer willkürlich definierten „Normalität“. Folglich wurde insbesondere in den Schulen darauf geachtet, die Kinder zu „Rechtshändigkeit“ zu erziehen; eventuell auch, um nicht in den Fokus möglicher erbbiologischer Nachforschungen zu geraten.

Quellen und Literatur: HHStaWi Best. 2072/2 Nr. 2665; HHStaWi Abt. 461 Nr. 32442; LWV Archiv Kassel Nr. 1/276 ; Peter Sandner. Die Landesheilanstalt Weilmünster im Nationalsozialismus. In: 100 Jahre Krankenhaus Weilmünster. Hg. Christina Vanja (1997); Ernst Klee. „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (1983/2010); Dorothee Roer, Dieter Henkel (Hg.) Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945 (1986); Peter Sandner. Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus (2003); Schneider, Christoph. Hadamar von innen. Überlebendenzeugnisse und Angehörigenberichte (2020); Armin Trus. Die „Reinigung des Volkskörpers“ Eugenik und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus (2019).